Liebe Unterstützer, liebe Familie, liebe Freunde und Bekannte,
inzwischen bin ich schon etwas länger als ein halbes Jahr in Argentinien. Ich habe mich eingelebt, das Spanische bereitet mir nur noch selten Schwierigkeiten und der zweite Rundbrief ist nun schon überfällig. Während der vergangenen Monate habe ich etwas mehr von dem Land gesehen und viele neue Erfahrungen sammeln dürfen.
Eine der Erfahrungen sind die Stromausfälle, die es hier häufiger gibt; etwa alle zwei Monate. An einem Tag gab es in der ganzen Stadt für etwa vier Stunden Stromausfall, weil versucht wurde ein Kabel zu klauen und ein Trafo dabei durchgebrannt ist.
Der Kupferpreis ist hier so hoch, dass es sich für Diebe lohnt Kupferkabel zu klauen. Dabei passieren jedoch auch oft Unfälle, bei denen sich die Diebe schwere Verbrennungen zufügen.
Bei einer Familie, bei der ich recht häufig zu Besuch bin, wurde das Kupferkabel von der Straße zu ihrem Haus geklaut. Der Dieb wurde zwar gefasst, aber zu dem Zeitpunkt hatte er das Kabel schon in kleine Stücke zerschnitten.
Weil sie sich ein neues Kupferkabel jedoch nicht leisten können, benutzen sie immer noch ein provisorisches Stromkabel aus niederwertigeren Metallen.
Wenn bei ihnen nun die Waschmaschine angeschaltet ist, dann flackert das Licht, und wenn der Kühlschrank anspringt, ist es kurz ganz dunkel. Der Computer, den sie haben, muss auch deshalb an eine Art Batterie angeschlossen sein, der solche Spannungslücken von ein paar Sekunden überbrücken kann.
Außerdem habe ich sehr viel über die Freikirchen hier in Argentinien erfahren.
Es gibt etwa 22.000 eingetragene Freikirchen in Argentinien, von denen fast alle meinen, den einzig wahren Glauben zu haben. Bei vielen ist es so, dass der Zehnte in einem Umschlag mit Namen und dem Geld und Auskunft über das, was man verdient hat, beim Pastor abgegeben werden. Bei manchen Kirchen sind es bis zu 20% des Lohnes, die abgegeben werden müssen.
Die Pastoren bekommen hier kein festes Gehalt sondern werden teilweise von der Gemeinde und (in fast allen Fällen) während der Wahlkampfzeit von einer der großen Parteien bezahlt. Deshalb werden viele der Pastoren auch „Puntero“ genannt, was auch Drogendealer heißt. Zusätzlich wird am Anfang jeden Monats das „presimo“-Fest gefeiert. Bei dem Fest bringen alle Familien Lebensmittel mit, die dann dem Pastor gegeben werden, der sie behält oder an bedürftige Familien weitergibt. Soviel kann ich zu den Freikirchen hier in Argentinien sagen.
Sonst ist die katholische Kirche die vorherrschende Kirche, es gibt viele Landstriche, in denen man nur Menschen katholischen Glaubens antrifft, wobei der Glauben hier oft mit altem Aberglauben vermischt ist. So ist es z.B. der Brauch, dass man, wenn man schlimme Magenschmerzen hat, sich den Bauch „ausmessen lässt“. Dabei muss der „cura“ (Heiler, Priester) drei Ellen Entfernung vom Bauch des Patienten abmessen. Danach misst er diese drei Ellen wieder zurück und wenn es genau auskommt, ist der Patient gesund. Wenn es nicht passt, hat der Patient eine schlimmere Krankheit.
Was hier auch häufig zu finden ist, sind Heiligenfiguren, von denen es hier eine Menge gibt. Meistens erinnern sie an Jungfrauen, die nur einige Male gesehen wurden, an bestimmten Orten (fast immer in Höhlen) ein Wunder vollbracht haben und anschließend verschwunden sind. Auch manche Berufe haben ihre eigenen Heiligen. So gibt es z.B. den Heiligen der Lastkraftfahrer „Gil“, den man hier oft an dem Rand der Landstraßen sieht, wo mal ein größerer Unfall passiert ist.
Eine weitere Erfahrung, die ich machen musste, sind komplette Straßensperrungen. Die Argentinier behaupten, dass die Straßensperre aus Demonstrationszwecken von ihnen erfunden wurde. Immer, wenn irgendwelche Berufsstände oder Gruppen von Menschen Probleme mit der Regierung haben, wird hier eine "Ruta" (Überlandstraße) gesperrt.
Das ist ein sehr effektives Mittel, insbesondere in der Region, in der ich lebe. Diese lebt vom Obstanbau und ist somit auch von dem Abtransport der Früchte über die Strassen abhängig.
Das erste Mal habe ich eine Straßensperre im Dezember erlebt, als in einer Stadt etwas weiter südlich von hier das Wasser knapp wurde. Die Regierung wurde nicht tätig, bis die Menschen alle Touristenbusse und die Transporte von Werkstoffen und Treibstoffen stoppten. So legten sie für kurze Zeit die Wirtschaft in dem Gebiet lahm. Unglücklicherweise bin ich gerade zu dieser Zeit in den Süden gefahren und wir mussten einen großen Umweg fahren, um nicht stundenlang auf der „Ruta“ festzusitzen.
Die letzte Straßensperre musste ich jetzt Ende März erleben. Es gibt nämlich einen Streit um Agrar-Steuern. So wurde Buenos Aires vom Land abgeschnitten und im ganzen Land wurden die Lastkraftwagen, die mit Agrarerzeugnissen beladen waren, gestoppt, was zur Folge hatte, dass es in weiten Landesteilen nicht mehr genügend Fleisch gab.
Für die Argentinier, die jeden Tag Fleisch essen, bedeutet dies einen unglaublichen Einschnitt in ihre Esskultur. „Argentinien ohne Fleisch“ war eine wahre Schlagzeile.
Ein anderes Problem beim Sperren der „Ruta“ ist, dass viele Lastwagenfahrer, wenn sie gestoppt werden, einfach ihren Lastwagen quer stellen, um Niemanden durchzulassen. Das machen sie mit der Begründung, dass sie ja auch nicht durchgelassen werden. So wird der Druck auf die Regierung natürlich größer und der Ärger in der Bevölkerung auch.
Zwischenzeitlich ist es so weit gekommen, dass es auch an anderen Produkten im Supermarkt fehlte. Die Regale waren einfach an vielen Stellen leer. Eine der Angestellten im Heim erzählte, dass am Vortag ihre Schwester aus Chile angerufen hätte, um zu fragen, ob wir hier in Argentinien hungern würden, denn in Chile wurde in den Nachrichten berichtet, dass Argentiniens Straßen soweit blockiert seien, dass es in weiten Landesteilen nicht mehr genügend Lebensmittel gebe.
Außerdem habe ich einem Argentinier geholfen, seinen Lebenslauf für eine Bewerbung als Mechaniker, die hier nicht schlecht verdienen, fertig zu machen. Nachdem wir alle Daten schön in der Form eines tabellarischen Lebenslaufes aufgeschrieben hatten, sind wir in ein Internet-Café gegangen, um den Lebenslauf dort auszudrucken. Kaum hatten wir das Internet-Café verlassen, fing er an, den Lebenslauf einzurollen, um ihn angenehmer halten zu können. Nach kurzer Zeit war der Lebenslauf meiner Meinung nach schon nicht mehr repräsentabel, aber er meinte nur „wenn sie mich nicht nehmen, dann nehmen sie mich halt nicht.“
Im Endeffekt haben sie ihn leider nicht eingestellt und er arbeitet weiter als Nachtwächter:
elf Stunden täglich, sechs Tage die Woche, für umgerechnet 450 Euro im Monat.
Im Heim läuft alles meistens ruhig weiter. Wir haben eine neue „Abuela“, die mit 62 Jahren die Jüngste des Heimes ist. Jedoch beansprucht gerade diese „Abuela“ einen sehr großen Zeitaufwand für sich, da sie sich schon in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer befindet.
Eine andere Abuela vertreibt sich ihre Zeit damit, Mützen zu stricken. Ungefähr alle zwei Tage hat sie eine Mütze fertig, die sie dann versucht für umgerechnet drei Euro zu verkaufen. Sie ist unsere einzige Raucherin und verdient sich so das Geld für ihre Zigaretten selbst. Mit immer wieder neuen Geschäftstaktiken versucht sie, mir eine ihrer Mützen anzudrehen: inzwischen habe ich ihr drei abgekauft, und eine hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.
Dann gibt es noch eine andere Abuela, mit der ich mich mehr unterhalte. Sie ist schon viel in Argentinien rumgekommen. Jetzt ist sie bereits 17 Jahre im Heim und sie ist glücklich dort. Sie schaut den ganzen Nachmittag lang Fernsehen, und hat so manche Serie schon drei-vier mal komplett gesehen, wobei man sagen muss, dass ihre Augen nicht mehr die besten sind, wir gehen davon aus, dass sie nur noch Schatten sehen kann, geistig ist sie noch auf voller Höhe.
Zusammen mit den Angestellten im „Hogar“ haben wir Tomaten-Soße, Pfirsichmarmelade und Pfirsiche und Birnen für den Winter eingemacht. So kann das Heim im Winter beachtliche Kosten einsparen.
Mit dem Angestellten hier verstehe ich mich größtenteils gut, was die Arbeit natürlich auch oft sehr angenehm macht. Besonders als wir drei Stunden lang Pfirsiche geschält, entkernt und eingemacht haben war, die gute Atmosphäre spürbar. Ich habe bereits zwei der Angestellten mal zuhause besucht um einen Mate mit ihnen zu trinken. Es gibt nur eine Angestellte mit der Franziska und ich teilweise Probleme haben.
Hier ist inzwischen Herbst und es scheint verrückt, aber da wir abends teilweise schon den Feuerofen anmachen müssen, kommen bei mir Weihnachtsgefühle auf. Das wird noch dadurch verstärkt, dass wir zum Nachtisch manchmal Bratäpfel essen. Äpfel haben wir inzwischen wieder im Überfluss: am Ende der Ernte wurden uns Äpfel aus der das Heim umgebenden Plantage gepflückt; zwei riesige Kisten voll a 400kg; eine Kiste mit roten Äpfeln und eine mit grünen.
Liebe Grüße aus einem herbstlichen Patagonien,
Daniel
1 Kommentar:
hey daniel,
der rundbrief ist dir wirklich guut gelungen!
fuerza weiterhin!
du leistest einen wichtigen dienst!
salu2, annika
Kommentar veröffentlichen